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Anläßlich des Referendums in Großbritannien

Der wechselhafte Kurs des Kapitalismus und seine paradoxalen Folgen

Das Ergebnis des Britischen Referendums, das auf einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union ausläuft, hat zahlreiche Reaktionen gezeitigt. Die Überraschung der Mehrheit der Beobachter und Kommentatoren ist zurückzuführen auf die Unentschlossenheit der politisch Verantwortlichen in England, in Europa insgesamt und darüberhinaus – so hat zum Beispiel Obama das Ergebnis bedauert. Auch verschiedene politische Gruppen die sich auf die Arbeiterklasse und die proletarische Revolution berufen haben sich zur Sache gemeldet. [1]

Obgleich das Ergebnis wirklich eine Überraschung war, und die Britischen Führer die das Referendum angezettelt hatten sich politisch schwer verrechnet haben (PM Cameron an erster Stelle), bleibt nicht weniger wahr daß es dieselben finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Imperative sind die sich den unterschiedlichen nationalen Fraktionen der Bourgeoisie aufzwingen werden, daß es dieselben politischen Angriffe gegen die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bevölkerungen geben wird.

Ein Referendum als Moment des Kuhhandels

Die Medien verkaufen uns die Geschichte dieses Referendums als ob es sich um ein historisches Ereignis handelt. Nach ihnen würden die Folgen dieser Abstimmung die Wirtschaft der europäischen Länder in die Krise stürzen, eine Währungskrise hervorrufen, die Finanzmärkte auf Dauer schwächen und das Wirtschaftswachstum unumkehrbar in einen Morast stoßen, um von der tiefen politischen Krise in der sich die Englische politische Klasse befindet, noch gar nicht zu reden.

Uns Glauben zu machen daß bisher alles gut ginge; daß das Wirtschaftswachstum sichergestellt sei, daß die Wirtschaften der europäischen Länder stabil seien, daß den Bourgeoisieen keine Schwierigkeiten im Weg stehen würden ihre Geschäfte zu führen, ihre Maßnahmen gegen die Bevölkerungen durchzusetzen – wen glaubt man damit hinters Licht zu führen?

Die Änderungen die diese Abstimmung nach sich ziehen wird sind nicht sehr klar umrissen, Unsicherheit bleibt bestehen über das Datum an dem sie in Kraft treten. Bestimmte Kommentatoren der englischen Politik bemerken, daß eine solche Abstimmung erst vom Parlament verabschiedet werden muß, um nach den Verfassungsgrundlagen des Landes Gültigkeit zu erlangen. Und im Parlament sind die verschiedenen Ausdrücke der britischen Bourgeoisie dazu gehalten dem Ergebnis des Referendums zumindest formal Rechnung zu tragen. Dieses bedeutet, daß das Datum an dem die Trennung in Kraft tritt vom guten Willen der britischen Politiker abhängt, und daß die Modalitäten der zukünftigen Beziehungen Großbritanniens und der Europäischen Union noch lange nicht festgelegt sind.

Die Art und Weise in der Großbritannien und die gesamte E.U. ihre Beziehungen weiter führen werden ist in Frage gestellt, und verspricht schon schöne Handgemenge zwischen Ländern die die “Liberalisierung” der Märkte fortsetzen und vertiefen wollen, und denjenigen Ländern die diese Politik ändern, und eine wichtige Rolle für den Staat in der wirtschaftlichen Orientierung jedes dieser Länder erhalten wollen. [2]

Zu dieser Frage der Ausrichtung der politischen Ökonomie sind wochenlange Unterhandlungen zwischen Großbritannien und der E.U. abgehalten worden, Während eines großen Teils des Frühlings hat die britische Regierung Bedingungen hervorgebracht die sie an die Fortsetzung ihrer Teilnahme an die E.U. Es ging genau um das Niveau der “Liberalisierung” das die britische Bourgeoisie für wünschenswert hielt. [3] Für Großbritannien stellt der “freie Markt” der E.U. einen wesentliches ‘Outlet’ dar, vor Allem für den Finanzsektor, in dem die Londoner City einer der dominierenden Akteure auf Weltebene ist, und der Wichtigste in Europa. Die obstinate Weigerung Großbritannien an der Eurozone und dem Schengen-Vertrag teilzunehmen ist keine chauvinistische Marotte, sondern beabsichtigt den Londoner Finanzstandort zu verteidigen, und seine Grenzen zu kontrollieren gegen jeden Versuch seitens der europäischen Institutionen ihre Nasen in die fiskalischen “Grauzonen ” zu stecken die vom Königreich abhängen. [4]

Zusammenfassend, das laute Getöse über die Episode des “Brexit” übertönt die Diskussionen und Zwiste zwischen den verschiedenen bourgeoisen Fraktionen in ganz Europa über die geschickteste Vorgehensweise um den Bevölkerungen die Krise und ihre Folgen aufzubürden, und den größtmöglichen Teil eines immer kleiner werdenden Kuchens für sich selbst zu ergattern.

Der Stimmzettel, die effizienteste Waffe der herrschenden Klasse

In Abwesenheit einer klaren politischen Klassenperspektive drückt sich das zunehmende Mißtrauen der Bevölkerungen gegen die politische Klasse einerseits aus im Aufstieg von sogenannten “populistischen” Strömungen und andererseits in einer wachsenden Indifferenz dem Wahlzirkus gegenüber (Beide Phänomene hängen miteinander zusammen).

Weder das Aufkommen von “extremistischen” Parteien links-populistischer Tendenz – wie Podemos in Spanien oder Syriza in Griechenland noch das von der rechten Sorte – wie die Front National in Frankreich, die AfD in Deutschland oder Wilders’ PVV in den Niederlanden – stellt ein Problem dar für die Bourgeoisieen dieser Länder, die sehr dazu fähig sind diese in ihr traditionelles politisches Spiel mit einzubeziehen und sie zu ihren Zwecken zu benutzen. Vielmehr stellt die relative Flucht aus den Wahllokalen ein Problem für die herrschenden Klasse dar.

Angesichts der Krise und den Maßnahmen der verschiedenen Regierungen - ob von rechter oder linker Signatur – weigern sich immer mehr Leute eine Wahl zu treffen aus Kandidaten die, was immer ihre Wahlversprechen waren, einmal gewählt, dieselben Angriffe wie ihre Vorgänger ausführen. Einige verbinden sich mit den “populistischen” Parteien die ich hiervor erwähnte, Andere lockt man mit dem beklagenswerten Spektakel überhaupt nicht mehr hinterm Ofen vor.

Das Problem für die regierende Klasse ist nicht so sehr die Schwache Wahlbeteiligung an sich, als wohl der Umstand daß diejenigen die sich von dem Zirkus abwenden sich anderen Mitteln zuwenden könnten um ihre Stimme zum Ausdruck zu bringen. Und, wie wir es hoffen, diese finden können über einen Kampf auf dem Klassenterrain. [5] Es ist für die regierende Klasse also wichtig alles mögliche zu tun um dem alten Rezept des Stimmzettels neuen Glanz zu verleihen. In diesem Rahmen sind die “populistischen” Parteien für die herrschende Klasse von zweifachem Interesse. Sie behält sie sozusagen in ihren Haushalt, weil sie nicht anders kann. Einerseits führen diese Parteien Leute die sich vom Terrain der Stimmabgabe entfernt hatten zurück an die Wahlurnen, andererseits dienen sie als Remedium indem sie falsche Gegensätze schaffen (zum Beispiel indem gegen die “Gefahr des Faschismus” agitiert wird, eine Spezialität vor Allem der extremen Linken).

Bei der “Brexit”-Frage haben wir es zu tun mit einem weiteren Versuch das Ansehen des Stimmzettels aufzupolieren : das Referendum! Es wird uns gesagt, daß die Bevölkerung ihre Meinung direkt zum Ausdruck bringt und daß sie wesentliche Entscheidungen über ihre eigene Zukunft (und für die “des Landes”!) trifft. [6] Die Teilnahme der britischen Bevölkerung hat eine Rekordhöhe erlangt und es steht außer Zweifel, daß dies eine der Ziele Camerons und der ganzen Bourgeoisie der Insel war. Die riskante “Wette” des Referendums ging durch das Ergebnis des “Leave” möglicherweise verloren, doch im Wesentlichen hat die demokratische Illusion neue Kraft erlangt. Dieses ist leider, zumindest zeitweilig, der Fall.

Und wenn die schlimmsten chauvinistischen und rassistischen Sentimente und andere stinkigen Reaktionen in diesem Ergebnis eine Rolle gespielt haben , ist dies weil die herrschende Klasse und die ihr hörigen Medien neue Rekorde erreicht haben beim Schwenken mit dem roten Lappen der Immigration. Diese Art der Kampagne zielt darauf ab die Verantwortung für die Lage die der Kapitalismus den Bevölkerungen aufzwingt, “Fremden” und anderen unappetitlichen Elementen in die Schuhe zu schieben. Dieses zeigt wieder einmal, daß Demokratie und Chauvinismus (oder Nationalismus) gute Haushälter sind. Mit der demokratischen Propaganda sind nationalistische, chauvinistische und Anti-immigrantenrhetorik die Gewinner dieses Referendums.

Ein schöner Erfolg für die Bourgeoisie, ein Rückschlag für die Arbeiterklasse

Wie schon gesagt, werden die Beziehungen zwischen Großbritannien und der E.U. sich durch das Ergebnis dieses Referendums nicht grundlegend ändern. Das Geschacher zwischen den verschiedenen Ländern Europas wird fortgesetzt und die widersprüchlichen - doch für den Kapitalismus profitablen ! - Zusammenhänge werden nicht grundlegend umgewandelt. Wie der scheidende Premierminister D. Cameron es ausgedrückt hat: “Der Ärmelkanal wird nicht breiter.” Einem unerwartetem Ergebnis zum Trotz ist es der englischen Bourgeoisie gelungen das Wesentliche zu retten. Die Austeritätsmaßnahmen und die Angriffe gegen die Arbeiterklasse werden zunehmen und, wo die britische Bourgeoisie fortan weniger den “verdammten europäischen Institutionen” die Verantwortung zuschreiben kann, ist sie immer noch in der Lage diese den Fremden, Immigranten und allen “Profiteure” anzulasten, die den braven Engländern das Brot aus dem Mund stoßen!

Es ist ein Rückschlag für die Arbeiterklasse weil die demokratische Ideologie [7] Punkte gewonnen hat, und sich ein wenig mehr Platz in den Köpfen der Arbeiter gemacht hat. Ihre zukünftigen Schwierigkeiten und die Angriffe die sie zu erleiden haben, werden den “ausländischen” Arbeitern angelastet und diese Angriffe werden “zum Wohl des Landes” ausgeführt, wie es während der Kampagne um das Referendum bis zur Neige wiederholt wurde. .

Bernard, den 16. Juli 2016

Übersetzung für Kontroversen: Jacob, den 12. August 2016.

[1Zum Beispiel, die CWO hat ein Kommunikee vom 26. Juni veröffentlicht mit dem Titel "Das Brexit-Referendum: Ein weiteres Anzeichen für die Verschärfung der kapitalistischen Krise", und die IKS spricht in ihrem Artikel "Growing difficulties for the bourgeoisie and for the working class" von dem "Verlust der Kontrolle der herrschenden Klasse über ihre eigene politische Strategie". Während die Standpunkte dieser zwei Gruppen global korrekt erscheinen, zeigt sich doch eine Überschätzung der Schwierigkeiten die die Bourgeoisie empfindet angesichts eines Verkehrsunfalls...

[2Ein Beispiel der radikal verschiedenen Optionen die die europäischen Länder umhertreiben geben Deutschland und Polen ab. Beide sind sie Anhänger einer größeren Liberalisierung des Arbeitsmarktes, was es Polen ermöglicht “Arbeitskräfte zu exportieren”, und Deutschland um von billigen Arbeitskräften zu profitieren. Frankreich und andere Länder im südlichen Europa befürworten dagegen eine Begrenzung dieser Transfers von Arbeitskräften, die die Steuereinnahmen verringern und das Gleichgewicht ihrer gesellschaftlichen Organe schwächen. Wir bemerken, daß Deutschland in dieser Hinsicht in Großbritannien eine sehr aktive Stütze findet. Dessen ungeachtet ist Deutschland nicht bereit zu irgendeinem Zugeständnis an Großbritannien, weder an irgendeinem Anderen seiner europäischen “Partner” und Konkurrenten.

[3Im Februar, während der Unterhandlungen zwischen Großbritannien und der E.U., hatte Cameron erreicht daß sein Land ausgenommen werde von der Verpflichtung von Sozialleistungen an neue Immigranten in den ersten vier Jahren ihres Aufenthalts. Selbstredend hält diese Vereinbarung nicht im Falle eines Ausstiegs aus der E.U., doch werden diese Maßnahmen wahrscheinlich durch die neue Regierung in London angewandt.

[4Diese sogenannten “Grauzonen” sind keine “Steuerparadiese”, doch Regionen in denen die Banken und andere Finanzielle Institutionen ohne Beschwerden jene helfen können die sich an sie wenden um ihre Kapitaleinkommen zu “optimieren” und möglichst wenig Steuern zu bezahlen. Jersey, Guernsey und das Isle of Man sind einige Beispiele dessen, außer weiterer abgelegene Inseln die der britischen Krone unterstellt sind.

[5Die Bewegungen vom Typ “Occupy” in den USA, den “Indignados” in Spanien oder wie letztlich “Nuits debout” in Frankreich sind ein Ausdruck dieser Suche nach anderen Mitteln um seine Stimme zu verlautbaren. Er ist Konfus , voller Illusionen und ohne wirkliche Zukunft wegen Abwesenheit einen Klassenbezug, doch diese Bewegungen manifestieren eine Unzufriedenheit derer man Rechnung tragen muß… und an denen man teilnehmen muß um sie zu überwinden.

[6Die Schweiz weist seit Jahrzehnten die Besonderheit eines Systems des “Volksentscheides” auf, das es den Bürgern gestattet allerhande Vorschläge zur Volksabstimmung zu unterbreiten, deren Anfragen genügend Unterschriften bekommen haben.

[7Diese demokratische Ideologie besteht für die herrschende Klasse darin dem “guten Volk” Glauben zu machen daß es selbst Herr seiner Geschicke sei weil es alle 3, 4 oder 5 Jahre einen Stimmzettel in eine Wahlurne werfen darf. Was der herrschenden Klasse jede Freiheit gibt die zum Erhalt seiner Ordnung notwendigen Maßnahmen zu treffen: der Ausnahmezustand der seit einigen Monaten in Frankreich herrscht, wie zum Beispiel die Gängelung der Presse in der Türkei, finden in einem “demokratischen” Rahmen statt. Ohne noch zu reden von der verallgemeinerten Überwachung im Internet und den “sozialen Netzwerken”