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Stürme über dem Maghreb und im Mittleren Orient

Was geschieht in Nord-Afrika und im Mittlerem Orient? Die Schockwelle die Mitte De­zember 2010 Tunesien erfass­te, und die sich über die ganze Region auszubreiten scheint, hat sein wirkliches Epizentrum in Ägypten. Was haben diese Länder gemeinsam, so daß eine Volksbewegung im einen Land ähnliche Proteste und Revolten im anderen hervorrufen?

An erster Stelle zeigen sie ein gemeinsames Merkmal auf: Ob Monarchien oder Republi­ken, es handelt sich bei allen um autoritäre oder diktatorische Regimes, unter denen Korruption, Nepotis­mus und Klanismus herrschen. Dem zum Trotz sind sie nicht von der übri­gen Welt abgeschnitten und ergehen deren dominierende Einflüsse. Die Verall­gemeinerung der kapitalistischen Produktions­weise, wie auch ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse, spie­len zuguns­ten der Auflösung der archai­schen Bände woraus diese Regimes bis auf den heutigen Tag ihre Existenzgrundlage geschöpft ha­ben. Auch muß die Rolle der Großmäch­te im Fortbestehen dieser Diktaturen, wie auch in den Span­nungen die ihr politisch-öko­nomisches Leben bestimmen in Betracht gezogen werden.

Die Wirtschaftskrise und die soziologischen Umbrüche

Die Bevölkerungen dieser Länder machen kulturelle und soziologische Umbrüche durch. Sie bilden ebensoviele neue Faktoren in den Ursachen die die Volksmassen in Be­wegung setzen und sich gegen die vorherrschende soziale und politische Funktionsweise wenden. Diese Umbildungen berühren an erster Stelle die Jugend die von einer Aus­bildung profitiert auf einem Niveau das bei­nahe dem der westlichen Ländern ebenbürtig ist. Dies ist ein wichtiger Faktor der Weltoffenheit, eines Hinwendens zu ihren Realitäten (z.B. die Rolle des Internet in den Demons­trationen) jedoch auch zu ihren Luftspiegelungen. Die Mehrzahl dieser Länder, die Öl-Monarchien aus­genommen, haben der Konkurrenz keine andere Wahl als zu versuchen einen Platz als “Werkstätte” der reichen Län­der zu ergattern. Das hat sie in die Lage versetzt um ein bestimmtes Entwicklungsniveau zu handhaben (4,5% Wachstum für Tunesien) während Europa und Vereinig­ten Staaten in die Rezession eintauchten. Doch das ist unzu­reichend um die wün­schenswerte Inte­gration in den Arbeitsmarkt dieser tausenden Tunesischer und anderen Di­plomträger zu sichern. Schlimmer, die meisten haben keine andere Wahl als ins Exil zu gehen oder Straßenverkäu­fer zu werden, und dem Polizisten “Bakschisch” [1] zu zahlen. Dazu ist die Verteurung der Basis-Nah­rungsmittel ein wiederholter und ver­schärfender Faktor der wütenden Volksaufstände. Die so­zialen Umbrüche sind dazu Fak­toren neuer Widersprüche. Die Bevölkerungen dieser Länder sind immer mehr urbanisiert und die traditionellen Verhältnisse neigen dazu sich auf zu lösen zu­gunsten einer Proletarisierung die durch die Ausweitung von öden Vorstädten gekennzeichnet wird. Der Kern der arbeitenden Klasse lebt von kleinen Überlebens-Jobs, Kleinhandel, kleinem Handwerk, sie arbeiten in Kleinunternehmen, “Werkstätten” von Ausländischen Investoren, oder als Zeit­arbeiter in der Tourismusbranche. Diese Bedingungen sind von der wirtschaftlichen und sozialen Struktur dieser Länder gegeben.

Der Anwesenheit von Oppositionen des islamistischen Typs zum Trotz, die in diesen Ländern da­von träumen die monarchischen Republiken durch theokratische Diktaturen zu ersetzen, haben ein Großteil der Bevölkerung und der Jugend andere Anliegen, wie sie in den Bewe­gungen und Revolten der letzten Monate zum Aus­druck gebracht haben. Selbstredend bestimmt der Sozialcharakter des Protestes den Ausdruck der Anliegen der in Bewegung gera­tenen Massen. Das Proletariat dieser “aufkommenden” Länder kann sich nur zu Forderungen auf­schwingen die in direktem Gegensatz stehen zum Unrecht das es aus seiner Ansicht zugefügt wird. Es will: we­niger Korruption, glei­ches Recht, weniger Klientelismus, Arbeit, kurz gesagt: die Etablierung moderner Werte die die Freiheit des Indivi­duums im Kontext des Marktes sichern.

Außer den genannten Faktoren muß die Gleichzeitigkeit der Protestbewegungen auch durch den Machtverschleiß dieser Diktaturen begriffen werden, die in Mehrzahl dreißig Jahre alt sind. In die­sem elementaren Prozeß der Revol­te sollten keine revolutionäre, antikapitalistische Nährböden ge­sucht werden, auf denen die Arbeiterklasse in diesen Ländern aufsetzen könnte um seine antikapi­talistischen Forderungen voran zu treiben. Zudem kann man diese Länder nicht mit den europäi­schen vergleichen, weder vom Standpunkt des Proletariat aus; nach ih­rem Platz in der Weltwirtschaft; noch vom Standpunkt ihrer Bedeutung in den gesellschaftlichen und politi­schen Beziehungen der Großmächte aus. Es muß festgehalten werden daß das westliche Proletariat die Folgen der Krise erleidet, ohne über­trieben auf die langsame Degradierung der Lebenslage ei­nes Teils der Bevölkerung zu reagieren, oder auf die Auste­ritäts-Maßnahmen die in Europa durch­gesetzt werden. Die Wutausbrüche in Griechenland oder die acht Wo­chen gegen die Rentenreform in Frankreich haben keine klaren Perspektiven vom Standpunkt der Klassenkämpfe erlangt, auch wenn eine bestimmte Kritik an den Gewerkschaften durch das Abhalten von berufsübergreifenden Vollversammlungen zum Ausdruck gekommen ist.

Die imperialistischen Mächte und die Länder in der Region

In Hinblick auf die Verhältnisse zwischen den Großmächten und den Ländern Nordafrikas, wie die des Mittleren Ostens (z.B. auf ihre wirtschaftlichen, politischen und strategischen Abkommen), be­unruhigen die Umstürze die diese Region erleben könnten Europa und die Vereinigten Staaten. Europa hat wichtige Interessen im Maghreb, wo es sich mit Energie versorgt. Des weiteren will es den Zufluß von Immigranten aus dem Maghreb und vor allem aus schwarz Afrika stoppen oder zu­mindest kontrollieren. Dessen wichtigste Zugangswege laufen durch Marokko (die Straße von Gi­braltar), und über die Tunesische Küsten in Richtung Italien. Es sind Zoll- und polizeiliche Vereinba­rungen mit diesen Ländern in Kraft, die sie zu respektieren scheinen. Daher werden die Immi­granten in den Flücht­lingslagern in Marokko und Tunesien zusammengehäuft und erleiden dort schlechte Behandlung. Diese weiteren Zo­nen der Rechtlosigkeit sind kein Gegenstand irgendeines Interesses von welcher Seite auch immer. Die Vereinig­ten Staaten haben ihren geopolitischen Einfluß über den ganzen Maghreb ausgeweitet, wie vorher über den Mittle­ren Osten, während Frankreich seine Wirtschaftsinteressen in seinen ehemaligen Kolonien erhalten hat. [2] Doch die Tu­nesische Ansteckung die Ägypten ergreift, birgt das Risiko in sich die wirklich strategische Zone für die amerika­nische Machtentfaltung in Aufruhr zu versetzen: Den Mittleren Osten (Suezkanal, das Verhältnis mit Israel). Obama zeigt sich viel umsichtiger mit Mubarak als er es mit Ben Ali gewesen ist. Er zögert die sogenannt “demokratische” Lö­sung durchzusetzen, während er sich zugunsten von friedlichen Demonstrationen und die Freiheit von Internet aus­spricht.

Wohin geht es?

Wer wird von diesen Volksbewegungen profitieren? Außer jenen die den Fall aller dieser Diktatu­ren herbeisehnen, das heißt ihre eignen Opfer? Es ist bemerkenswert das diese Bewegungen in Tu­nesien und Ägypten sich ohne Füh­rer oder politischen Parteien an ihrer Spitze ausgeweitet haben. Sie haben sich sogar geweigert um irgend jemanden als Wortführer oder Vertreter auftreten zu las­sen. Dieser Aspekt muß vertieft werden um zu einer Beurteilung zu ge­langen die der Wirklichkeit näher kommt um den Charakter dieser Ereignisse zu verstehen. Diese scheinen mit kei­nem vorab auf­gestelltem Schema zu korrespondieren. Die Anliegen dieser revoltierenden Bevölkerungen sind nicht anti­kapitalistisch. Und es ist unwahrscheinlich daß die Zukunft sie befriedigen wird. Die ein­zige Perspektive wäre daß der Klassenkampf in den entwickelten Ländern sich mit dem Klassen­kampf in den aufstrebenden Ländern ver­bindet (oder umgekehrt), wenn die globale Krise des Ka­pitalismus all ihre destruktiven Folgen über den gesamten Pla­neten fühlen lassen wird.

Forum für die Internationalistische Kommunistische Linke (Revue Kontroversen ), 04. Februar 2011.

[1Bestechungsgeld

[2Wobei die Tunesische Affäre Frankreichs wirtschaftlichen Interessen geschadet hat